Ein Text von Jess Jochimsen: Der poetische Bademeister

Ich gehe gern ins Strandbad ...

Jess Jochimsen, in München geboren, lebt als Autor und Kabarettist in Freiburg. Bei dtv erschienen zuletzt die Erzählsammlung „Mama und Papa hatte ich nicht, ich musste Renate und Eberhard sagen“ sowie der von Kritik und Publikum hochgelobte Roman „Abschlussball“ - Gibt's ab 26. Oktober 2018 auch als Taschenbuch.
www.jessjochimsen.de

Next Gigs: 27. & 28.12.2018 @ Vorderhaus, Freiburg



Der poetische Bademeister.

Ich gehe gern ins Strandbad.
Nicht, um zu schwimmen. Schwimmen nein, Strandbad
gern. Ich gehe dahin, um Menschen anzugucken. Das
tut mir gut. Ich suche mir immer ein, zwei Menschen aus
und die schaue ich an. Ich gebe ihnen Namen, denke mir
ihre Geschichte aus und gehe wieder heim.

Das kann zum Beispiel der poetische Bademeister sein,
„Hans-Peter“, wie ich ihn nenne, Hans-Peter, der immer
braungebrannt rumsitzt und alle zwei Minuten brüllt:
„Nicht von den Längsseiten reinspringen!“ Da denke ich
mir: Wahrscheinlich würde der viel lieber ein Rilke-Ge-
dicht aufsagen oder zumindest: „Macht doch, was ihr
wollt, aber glaubt ja nicht, dass ich euch da rausfische,
aus der Pissbrühe.“

Ich habe den nämlich noch nie im Wasser gesehen, noch
nie, ich glaube sogar, dass der gar nicht schwimmen
kann. So was denke ich: Hans-Peter leidet wie ein Hund,
weil er nicht Dichter geworden ist oder Bibliotheksan-
gestellter. Stattdessen muss er Bademeister sein und kann
gar nicht schwimmen. Und er hat natürlich tierisch
Schiss, dass jemand absäuft, weil dann müsste er den
retten und könnte das gar nicht und dann wüssten alle
Bescheid und er bekäme großen Ärger mit seiner Mutter,
bei der er immer noch wohnt und der er von Zeit zu Zeit
Rilke-Gedichte aufsagt ... Und deswegen brüllt er in einer
Tour. So Zeug denke ich.

In diesem heißen Freiburger Sommer aber beobachtete
ich dies: Zwei Schwimmer. Der erste war ein altersloser,
bleicher Typ mit Badekappe, der völlig akkurat seine
Bahnen zog. Ich wusste gleich: Er heißt Horst, ist Buch-
halter und hat keine Freunde. Der andere Schwimmer
war eine Oma. Eine dieser sagenhaften Freibad-Omas,
die mit einem Schwimmstil das Wasser durchpflügen,
wie er kurz nach dem Dreißigjährigen Krieg aus der
Mode gekommen ist. Mit hoch erhobenem Kopf, damit
die Frisur nicht nass wird. Und diese Frisur ... ein Kunst-
werk. Rechteckig, ja wolkenkratzergleich in die Höhe
onduliert und in bizarrem Lila schimmernd. Miss Marple
trifft Marge Simpson. Und einen Blick hatte die Oma.
Irgendwas zwischen: „Draußen nur Kännchen“ und
„Komm mir bloß nicht zu nahe“. Horst, der Buchhalter,
aber kam ihr immer näher, weil sie die Spur nicht ganz
halten konnte und so ausladend schwomm.

Gleich passiert’s, dachte ich. Hans-Peter sah nicht hin –
aus Angst wahrscheinlich. „Nicht von den Längsseiten
reinspringen!“ Ich dagegen sah hin.

Einmal verfehlten sich Horst und die Oma noch,
aber schon bei der nächsten Bahn stießen sie dann
zusammen. Schlump! Buchhalter-Badekappe rammt
lila-Haar-Bollwerk. Und das legte los: „Können Sie nicht
aufpassen, Sie unverschämter Lümmel, Sie Verbrecher,
früher hätte man so was wie Sie weggesperrt!“

Horst, der Buchhalter sah sie an, und ich wusste sofort,
bei dem ist das Mass voll, der hat sein ganzes Leben lang
immer nur gebuckelt, der hat sich noch nie gewehrt, und
jetzt tut er’s. Er griff ihr zwei Klafter tief in die Frisur und
tunkte sie unter Wasser. Einfach so. Kommentarlos. Ich
habe so etwas noch nie gesehen, es war unerhört und
doch so großartig. Es schienen mir Minuten zu vergehen,
bis die Oma endlich wieder auftauchte ... Horst zog da
längst schon wieder ruhig seine Bahnen.

Die Oma stieg wutschnaubend aus dem Wasser.
„Verfolgen Sie diesen Mann“, schrie sie Hans-Peter, dem
Bademeister, zu.

„Das kann ich nicht“, entgegnete der.
Da weinte die Oma und ihre lila Haarpracht pappte
verloren an ihrem Kopf. Hans-Peter aber nahm sie bei
der Hand, legte ihr sein Badetuch um die Schultern und
mir war, als flüsterte er: „Mögen Sie Rilke?“

Jess Jochimsen

Artikelfoto: Jess Jochimsen by © Britt Schilling

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