Disco Boy Gordon: Balzgehabe 2.0

Tinder aus und tanzen jetzt!
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Zeiten ändern sich. War es noch bis vor ein paar Jahren essentiell, sich ins Nachtleben zu stürzen, um mit dem anderen (oder gleichen - je nach Veranlagung) Geschlecht anzubandeln, erledigt man das heute bequem von der Couch. Es gibt schließlich für alles eine App. Wie heiß es noch gleich in der Zewa-Werbung: Wisch und weg. Und genau das ist das Problem: Man fasst sein Smartphone öfter an als andere Menschen. Nackenverspannungen und Krüppeldaumen sind nicht die einzigen Nebenwirkungen: Die menschliche Rasse ist auf dem besten Weg, sozial zu vereinsamen und emotional zu verkümmern. Dabei könnte alles so einfach sein: Runter vom Sofa, raus auf die Party und endlich mal wieder jemanden antanzen, anstatt sie oder ihn nur auf dem Display anzuglotzen.

Der einzige Vorteil dieser modernen Verhaltensstörung (oder wie soll man den Umstand sonst bezeichnen, dass wir lieber auf das Leuchten in unseren Händen starren anstatt einen anderen Menschen anzulächeln?) ist, dass es auf den Parties anscheinend wieder mehr um Musik geht. Denn wenn alle ihren Traumpartner schon im Mobiltelefon gefunden haben, muss in der Nacht niemand mehr dem anderen gefallen und kann sich ein jeder voll und ganz auf den Exzess konzentrieren und die Musik genießen... Träum' weiter, DJ!

Ich beobachte leider weiter zusehends, dass die Clublandschaft hierzulande den Bach runtergeht. Immer mehr Läden schließen oder ändern das Konzept. Weg von interessanter Musik und kreativen Künstlern hin zu Mottoparties, die selbst mir zu peinlich sind. Oder was ist das für eine beknackte Idee, am Eingang kontrolliert zu werden, ob man alt genug für eine Ü30 oder Ü45 ist? Kann man dem DJ auf einer 80s- oder 90s-Nacht vertrauen, dass er auch wirklich nur Musik aus diesen Jahrzehnten spielt? Oder sehnen sich die Menschen so sehr danach, ausschließlich von Gleichaltrigen umgeben zu sein? Wollen sie nur Musik hören, die sie noch aus der Grundschule kennen, weil sie sich nur dann infantil gehen lassen können? Wir sind früher weggegangen, um Musik zu hören, die wir nicht kannten. Wir waren eine verschworene Gemeinschaft, die vom DJ mit einem Clubhit auf die Tanzfläche gelockt werden wollte, um dann dort von ihm festgenagelt zu werden, bis die Füße qualmten. Es war egal, wie alt man war: In war, wer drin war. Und wenn zum Abschluss der Nacht dann ein Klassiker aus den 80ern erklang, der so aber nie im Radio lief, mochte man niederknien und konnte die Zeit bis zum nächsten Wochenende kaum erwarten. Der Club war immer der Fluchtort vor dem Alltag. Nur wie soll man diesem entfliehen, wenn auch auf der Tanzfläche die Musik läuft, die man jeden Tag überall hören kann?

Heute läuft im Radio oft dieselbe Musik wie im Club. Und in vielen Clubs läuft jedes Wochenende dasselbe. Der Überraschungseffekt ist weg. Die Masse konsumiert auf allen Plattformen dasselbe - und was sie nicht kennt, kriegt sie gar nicht mehr zu hören. Und wer hört die 38.000 Tracks, die jede Woche neu bei Beatport erscheinen? Will ich mir wirklich von einem Streaming-Dienst wie Spotify vorschlagen lassen, was mir gefällt und wie mein Musikgeschmack ist? Sind wir wirklich so faul geworden, dass wir eine Abweichung von der Norm als störend empfinden? Sehen nicht alle Innenstädte, alle sogenannten Hipster gleich aus? Haben wir mittlerweile jegliches Jäger-und-Sammler-Gen verloren, weil alle Musik immer und überall verfügbar ist genau wie eine Riesenauswahl an potentiellen Traumpartnern? Online ist alles immer da, ohne Limit. Virtuelle Versprechen, einlösbar mit einem Klick. Nur Anfassen geht leider nicht. Und das Individuelle löst sich auf. Kein Wunder, da heute jeder mit jedem vernetzt ist, und der Computer alles zählt und sortiert. Als DJ kann ich komfortabel nachsehen, wie oft ich welches Stück schon gespielt habe und wann. Und wenn mein Set letzte Woche gut ankam, kann ich es nächste Woche genauso wieder auflegen. Macht Nichts. Merkt ja keiner.

Diese neue Weltordnung sorgt ganz selbstverständlich dafür, dass das Leben ein stückweit genauer und betriebswirtschaftlicher abläuft. Es heißt oft, dass die jungen Leute spießiger seien als ihre Eltern. Aber was sollen sie auch machen, wenn Ihr Leben durch Timelines und Onlines bestimmt wird? Mein männliches Imponiergehabe lebe ich auf meiner Pinnwand aus. Jeder wird online unweigerlich zum Spanner. Big Apple is watching you. 2015 ist das neue "1984". Der Raum für Chaos und somit Kreativität wird kleiner. Und alle liken das.

Wie gefällt Euch das? Hier gibt es die Termine zum mich anfassen: www.discoboys.de

PS: Du willst mehr lesen? Hier findest Du meine gesammelten Werke zum Nachtleben und der DJ-Kultur: http://www.virtualnights.com/thema/kolumne

PPS: Klingt gut: The Disco Boys Vol. 15


 

Gordon Hollenga